Ich brauche einen Moment, um einen klaren Kopf zu bekommen. Es ist dunkel und mein Bett schlingert. Ich habe soeben geträumt, dass wir ein Problem mit der Antriebswelle hätten und zu dritt fluchend im Motorenraum sässen. Als ich nun Mätthus Silhouette neben meinem Bett erkenne fällt mir alles wieder ein. Wir sind ja gar nicht mehr am Reparieren! Mauna Loa geht’s wieder tipptopp. Wir sind heute unterwegs von Alicante Richtung Süden und meine Wache an Deck beginnt!
Eine Viertelstunde später erscheine ich etwas verschlafen im Cockpit. Es ist sechs Uhr morgens, wir schreiben den 22. Dezember. Mätthu wünscht mir bestens gelaunt einen guten Morgen. Das Windfenster heute ist kurz und da wir unser Ziel, das Binnenmeer Mar Menor, nach Möglichkeit unter Segeln erreichen wollen, war um 03:40 Uhr in der Früh Tagwache. Schon kurz nachdem der Anker oben und der Strand von Alicante verlassen war begannen ideale Segelbedingungen. Jetzt steuert Mätthu Mauna Loa mit knapp 7 Knoten hart am Wind Richtung Süden und hat sichtlich Spass daran. Trotzdem ist er nicht ganz unglücklich, jetzt noch einige Stunden Schlaf nachholen zu können und so übernehme ich nach einer kurzen Übergabe die Schiffsführung.
Es ist eine glasklare, kühle Nacht. Im Westen nähert sich der Vollmond langsam dem Horizont, im Osten geht gerade Venus auf. Mätthu hat gute Arbeit geleistet: Die Segel stehen bestens, sogar Cunningham und Backstag sind gesetzt. Aus reiner Freude versuche ich mit der Hydraulik das Unterliek noch etwas zu straffen und das Profil des Grosssegels mit der Grossschot leicht zu optimieren. Nicht dass es darauf ankäme, trotzdem freue ich mich, als ich das Tempo nochmals minim steigern kann. Während Mauna Loa wie auf Schienen durch das fast glatte Wasser düst bleibt mir Zeit meinen Gedanken nachzuhängen.
Es ist schön, wieder unterwegs zu sein. Zwei ganze Monate steckten wir in Palma de Mallorca fest. Es war eine sehr lange, kräftezehrende Zeit. Wir arbeiteten von früh bis spät, meistens sechs, manchmal sieben Tage die Woche um Mauna Loa für unsere weiteren Segelabenteuer wieder flott zu bekommen. Aufzuzählen was wir alles in Stand gesetzt und überholt haben, würde Bücher füllen. Es gibt gefühlt keine technische Installation, kein Gerät, keinen Meter Schiff, an dem wir nicht irgendwelche Wartungsarbeiten durchgeführt hätten. Eine enorm stressige und auch finanziell nicht unbelastete Zeit. Kein Wunder, liess immer mal wieder einer von uns den Kopf hängen. Nein, so hatten wir uns das nicht vorgestellt.
Gemäss unseren ursprünglichen Plänen wären wir jetzt unterwegs über den Atlantik und würden bald einmal die Karibik erreichen. Stattdessen sind wir in Südspanien und streifen uns abends im Salon die Daunenjacke über. Trotzdem sind wir uns einig: Dass wir ausgerechnet auf Mallorca stecken blieben, ist wohl das Beste, was uns passieren konnte. Wenn wir denn schon steckenbleiben mussten. Die Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit sämtlicher Menschen denen wir im Zuge unserer Strandung begegnet sind, ist unbeschreiblich. Die Mitarbeiter der Bootsersatzteilläden in der Umgebung kannten uns bald alle persönlich und unterstützten uns nach Kräften. Im Supermarkt nebenan lag das Brot jeweils schon für uns bereit wenn wir kamen. Und auch der Hafenverwaltung des Real Club Nautico möchten wir ein grosses Kränzchen widmen: Es gab keinen Tag, an dem wir auf dem Steg nicht gesägt, gebohrt, gedremelt, geschliffen, geflext oder irgendwelche anderen entweder Dreck oder Lärm verursachenden Arbeiten durchgeführt hätten. Kein einziges Mal wurden wir zurechtgewiesen, im Gegenteil: Selbst als wir zum fünften Mal die Landstromsicherung raushauten blieben die Marineros immer noch freundlich.
Den Höhepunkt der Hilfsbereitschaft erlebten wir schliesslich in der Werft STP. Mit unseren knapp 15 Metern Länge waren wir bei weitem das kleinste Schiff in der Werft, umgeben von duzenden gigantischen Luxusjachten. Vier junge Schweizer (zu diesem Zeitpunkt war unser Freund Ben bereits mit von der Partie), die sich inmitten all der pompösen Schiffe von früh bis spät die Hände dreckig machen um mit beschränktem Budget ihr „kleines“ Segelschiff wieder flott zu bekommen. Den einen oder anderen Chef der diversen Handwerker-Firmen erinnerten wir damit vermutlich an seine eigene Jugend. Jedenfalls riss sich jedermann ein Bein aus, um uns bei unserem Projekt so gut wie möglich zu unterstützen. Als Beispiel sei hier die Malerfirma genannt: Obwohl völlig ausgelastet, kam uns einer der Arbeiter jeweils am Feierabend unterstützen und wir durften ihn auch tagsüber jederzeit um Rat fragen. Als es schliesslich um die Bezahlung ging meinte der Chef: „Ach, diesen angefangenen Farbtopf für euer kleines Schiff, den verrechne ich euch nicht.“ Und so wechselte ein noch kaum gebrauchter 20 Liter Farbtopf im Wert von 800 Euro unbezahlt den Besitzer.
Auch ausserhalb von Hafen und Werft hätte Mallorca einiges zu bieten, doch für etliche Dinge war es schon zu kühl. Wassersport beispielsweise war nicht mehr wirklich „anmächelig“. Und ausserdem war das Wetter im Oktober eine Katastrophe: Der bisherige Oktober-Regenrekord Mallorcas wurde dieses Jahr nämlich um das Vierfache überboten! Kein Wunder hatten wir den Eindruck es gäbe auf der Sonneninsel nie Sonne… Während wir täglich im Inselradio von perfektem Herbstwetter in Deutschland und der Schweiz hörten wurden wir fast pausenlos begossen. Zum Glück hat sich das im November und Dezember dann geändert. Viele Sonnentage liessen unsere Arbeiten gut voranschreiten und wir konnten tageweise Klettern oder Wandern gehen. Das gab viel Energie für das Arbeiten an den restlichen Tagen und gute Laune.
Ein brennendes Schiff, Wassereinbruch, tagelanges Leben ohne Strom an Bord, ewig dauernde Reparaturen, wochenlang nasse Matratzen, ein völlig durcheinander geratener Zeitplan und dies alles gekoppelt mit wenig Platz und kaum Privatsphäre: Es hätte viele Gründe für Zwiespalt in unserem Team gegeben. Stattdessen sind wir noch näher zusammengewachsen. Jeder unterstützt die anderen wo er nur kann. Eine Umarmung und gute Worte wenn‘s mal nicht so läuft, eine helfende Hand genau dann wenn man sie braucht. Klar, sind auch wir vor Meinungsverschiedenheiten nicht gefeit, doch bisher hielten sich diese sehr in Grenzen. Spontanität und gegenseitiger Respekt haben uns die Kräfte zehrende Zeit in Palma gut überstehen lassen. Merci Reto und Mätthu, es ist schön, Teil eines so tollen Teams zu sein!
Dass wir während dieser Zeit von zwei guten Freunden, Ben und Björn, begleitet wurden, hat uns enorm gefreut. Sehr gerne wären wir mit euch beiden wie geplant über den Atlantik und durch die Karibik gefahren! An dieser Stelle ein riesiges Merci, dass ihr trotzdem gekommen seid und uns mit euren Ideen, euren Händen, aufmunternden Worten, tollen Gesprächen, Kochkünsten, Witzen und vielem mehr unterstützt habt! Wir vermissen euch!
Ja, die Durststrecke war lang. Doch irgendwann war es soweit: Mauna Loa war wieder flügge! Wie fest hatten wir uns auf diesen Moment gefreut! Wenn es mal nicht so lief, hatte ich mir vorgestellt wie der Hafen hinter uns immer kleiner würde, wie wir Mallorca Tschüss winkten. Ich würde meine Haare offen tragen und sie vom Wind zerzausen lassen. Nachts auf der Wache würde ich Sternschnuppen zählen und mich ab den Leuchtquallen freuen, die im Kielwasser hell aufleuchten. Den Sonnenaufgang bewundern und auf dem Bug versuchen, hüpfende Delfine zu fotografieren…
Der 10. Dezember war schliesslich der Tag der Tage: El Capi (Abkürzung der Spanier für Kapitän) Reto Meier manövrierte vor Glück strahlend unsere Mauna Loa aus dem schon fast zum Zuhause gewordenen Real Club Nautico. Mätthu hielt den historischen Moment mit der Drohne fest, während Ben, Björn und ich an Deck mit Festmachern und Fendern hantierten. Mit Wind in den Haaren, wie ich mir das immer gewünscht hatte. Das Gefühl, nach so langer, stressiger Zeit und so vielen gemeinsam durchgestandenen Höhen und Tiefen endlich wieder Segel zu setzen ist unbeschreiblich. Selbst eine Gruppe Delfine liess sich diesen festlichen Moment nicht entgehen!
Björn und Ben sind leider mittlerweile wieder zu Hause und so sind wir wieder zu dritt unterwegs. Von Mallorca ging es via Ibiza, Calpe und Alicante Richtung Westen. Als nächstes steht die Besichtigung des Mar Menor an. Die Durchfahrt durch den Kanal mit Klappbrücke und Segeln auf dem nur 6 Meter tiefen Meer wird bestimmt spannend. Ausserdem hoffe ich, in den nahe gelegenen Salinen Flamingos sehen zu können! Zwar sind diese normalerweise um diese Jahreszeit in Afrika. Aber wer weiss, vielleicht geht es einigen Flamingos ähnlich wie uns, ihre Pläne sind durcheinander geraten und sie stecken noch immer im winterlichen Spanien?
Mittlerweile ist es neun Uhr geworden und die sternenklare Nacht wurde von einem stahlblauen Himmel abgelöst. Mauna Loa ist weiterhin mit gut 6 Knoten unterwegs nach Süden. Es läuft perfekt. Zeit zum Segeln und Geniessen!
Im nächsten Blog werden wir euch erzählen, wie sich Weihnachten auf hoher See anfühlt und welche Pläne wir für die nächste Zeit schmieden.
Ein schönes Jahresende wünschen euch: Mätthu, Reto, Chris