„Prochain arrêt: Mohammedia“, scherbelt es aus dem Lautsprecher, während mir die junge Frau gegenüber zwei Schnitze ihrer frisch geschälten Orange anbietet. Ich sitze in einem 8-er Zugabteil unterwegs von Rabat nach Marrakesch und versuche mich nicht allzu fremd zu fühlen, während mich sechs Marokkaner mittleren Alters im gleichen Abteil interessiert mustern.
Vor etwa einer Stunde haben wir den Bahnhof Rabats verlassen, 3 ½ Stunden Fahrt liegen noch vor uns. Der Zug ist völlig ausgelastet, und so wurden Reto, Matthias und ich auf drei verschiedene Wagen verteilt. Seit kurzem verfügt Marokko nämlich über ein neues Billet-System für die Eisenbahn: Die Sitzplätze werden beim Kauf fix zugewiesen. Noch ist diese Neuerung allerdings nicht allen Einheimischen bekannt und so werden bei jedem Halt nicht nur Gepäckstücke, Kinder und Tiere ein- und ausgeladen sondern auch fleissig diskutiert, wer jetzt warum, wo, falsch sitzt.
Viereinhalb Stunden Bahnfahrt geben mir die Möglichkeit mir Gedanken und Notizen für den neuen Blogeintrag zu machen. Jetzt vor aller Augen den Laptop hervor zu nehmen halte ich nicht für angebracht – Elektronik kostet in Marokko ein Vermögen. So formieren sich die Sätze statt auf dem Laptop diesmal in meinem Notizbuch während die Landschaft draussen abwechslungsweise fruchtbar grün und dann wieder trocken braun vorbeizieht.
Schon zehn Tage sind vergangen, seit wir Marokko erreicht haben. Die Überfahrt von Gibraltar nach Marokko hätte kaum besser sein können. Zwar hatten wir in der Strasse von Gibraltar entgegen unserer Erwartungen Gegenströmung. Ob wir etwas falsch berechnet hatten oder die Natur den Lehrbüchern mal wieder einen Streich spielen wollte wissen wir bis heute nicht – die Strasse von Gibraltar ist bekannt für komplexe Strömungsverhältnisse und die Berechnungen basieren grösstenteils auf Untersuchungen aus der Zeit des zweiten Weltkrieges. Etwas langsamer als geplant durchquerten wir also dieses zu den meistbefahrenen Wasserstrassen der Welt zählende Gewässer. Im Vergleich zu den bis zu 360 m langen Frachtkähnen erschienen wir winzig. Selbst die Delfine fanden die rasant fahrenden Frachter interessanter als uns – mit deren Bugwellen kann Mauna Loa definitiv nicht mithalten.
Während die Sonne am Nachmittagshimmel langsam tiefer sank, blieb mir wieder einmal Zeit unsere Position auf traditionellem Wege zu bestimmen: Mit dem Sextanten. Reto und Mätthu amüsierten sich prächtig, während ich trotz der grossen Atlantikwellen versuchte, eine vernünftige Höhenwinkelmessung zu Sonne und Mond vorzunehmen. In Zeiten von GPS könnte man dies vielleicht als überholt ansehen – aber ist es nicht toll, nur anhand der Gestirne seine Position an jedem Punkt der Erde ohne Elektronik ziemlich genau bestimmen zu können? Ausserdem halten die Berechnungen meinen Grips wach. Es bleibt allerdings zu vermuten, dass die alten Seefahrer mich etwas belächelt hätten: Hochprofessionell wirkte mein Auftritt mit dem Sextanten noch nicht.
Bald darauf brach die Nacht herein. Wir hielten uns etwa zehn Seemeilen von der Küste fern während wir nach Süden fuhren – entlang der Küste Marokkos wimmelt es nur so von unbeleuchteten Fischernetzen und Booten, denen wir im Dunkeln nicht unbedingt begegnen wollten. Der Wind blieb uns die ganze Nacht treu und brachte uns in Windeseile nach Süden. So erreichten wir Rabat bereits am nächsten Mittag – mehr als sechs Stunden früher als erwartet. Der Hafen Rabats befindet sich im Fluss Buregreg, fast 1 sm vom Meer entfernt. Weil es keine genauen Seekarten für den Fluss gibt und dieser ausserdem von Fischerbooten, Ruder-Fähren und im Sommer Schwimmern stark frequentiert ist, wird man an der Flussmündung von einem Lotsenboot abgeholt. Da nach 28 Stunden auf See etwas Unordnung im Schiff herrschte wollten wir vorher für eine Stunde ankern, etwas zu Mittag essen und die Ordnung wieder herstellen. Es kam jedoch anders: Einer der vielen Fischer hatte die Marina wohl schon über die Ankunft des neuen Seglers informiert. Jedenfalls wartete das Lotsenboot schon auf uns als wir die Gegend erreichten. Und so geschah es, dass Mätthu und ich Mauna Loa bereits am Zollsteg des Hafens parkierten und die Zöllner begrüssten, während unser Skipper noch in der Dusche stand.
Die Beamten waren äusserst freundlich und die Kommunikation auf Französisch einfach, während wir in unserem Salon um den Tisch sassen und unzählige Formulare ausfüllten. Als ich danach fragte, ob ich die Medikamente unserer Bordapotheke angeben müsse, wurde dies vom Beamten der Grenzpolizei freundlich verneint. Aber ich solle doch bitte die Halswehtabletten rausrücken, er sei erkältet und hätte keine mehr… Schliesslich mussten wir noch die Drohne am Zoll deponieren und der Spürhund sein Einverständnis geben und es war geschafft: Wir waren in Marokko angekommen.
Nach einer Verschnaufpause unternahmen wir einen ersten Ausflug und besichtigten die Kasbah von Rabat. In den engen, weiss-blau bemalten Gassen kann man sich herrlich verlaufen. Und so lernten wir eine Grundregel Marokkos schon sehr früh kennen: Als Europäer bekommt man Wegbeschreibungen nicht kostenlos.
In den folgenden Tagen sass ich primär vor dem Laptop, es gab mal wieder etliche Aufgaben für die Doktorarbeit zu erledigen. Mätthu und Reto erkundeten derweil Rabat und Salé. Rabat liegt am südlichen Ufer des Buregreg, Salé am nördlichen, wobei beide Städte quasi zusammengewachsen sind. Rabat ist eine moderne Grossstadt mit zwei Tramlinien, allerhand Einkaufsmöglichkeiten und viel Verkehr. Salé gilt als der reiche Vorort Rabats –davon ist in der Medina (der Altstadt) allerdings nicht viel zu spüren. Enge Gassen, baufällige Häuser, viel Abfall in den Strassen – Salé sieht selten Touristen und ist entsprechend ursprünglich geblieben. Gerade dies macht den Reiz aus: In den Suks (Marktgassen) lässt sich das alltägliche Treiben bestens beobachten. Kleider, Schuhe, Gewürze, Berge von Früchten und Gemüse, frisches Fleisch, Eier, Küchenzubehör, WC-Papier – alles wird in und vor den Läden der Suks feilgeboten, begleitet von den verschiedensten, mal besseren und mal weniger angenehmen Gerüchen. Die Lebensmittel sind lecker und meist auch sehr frisch. Etwas zu frisch für unsere Gewohnheiten vielleicht: Der typische Hühnchen-Laden beispielsweise besteht aus einem Hühnerstall im hinteren Teil, allerhand Maschinerie im mittleren Teil und frischem Poulet auf der Ladentheke. Auch von der Decke baumelnde Rindshälften oder schön arrangierte Hammelköpfe sind ein Anblick an den man sich zuerst gewöhnen muss.
Ausserdem bieten die Suks auch immer wieder Überraschungen. So wollten Mätthu und Reto beispielsweise vor einigen Tagen Ingwer kaufen. Als sie ihn gefunden hatten und eine einzelne Ingwer-Wurzel bezahlen wollten, schüttelte der Verkäufer nur ungläubig den Kopf und stopfte den Sack ungefragt bis oben mit Ingwerwurzeln voll. Damit kamen die beiden dann etwas verwirrt zurück aufs Schiff. Als die erdigen Wurzeln geputzt und eine davon aufgeschnitten war stellte sich allerdings bald heraus, dass dieser Ingwer eben kein Ingwer war. Eine Internetrecherche lehrte uns, dass es sich um Topinambur handelt – die Wurzel eines Sonnenblumengewächses, das sich wie Kartoffeln nutzen lässt. Damit war wiederum das Erstaunen des Verkäufers erklärt: Denn wer kauft schon eine einzelne Kartoffel?! Die Topinambur-Wurzeln haben wir schliesslich zu einem Linseneintopf und einer leckeren Suppe verarbeitet – und werden sie definitiv wieder kaufen. Ach ja – wo man Ingwer erstehen kann wissen wir mittlerweile auch. Nicht beim Gemüsehändler, sondern beim Gewürzhändler. Eigentlich klar, oder?
Nach diesen Angewöhnungstagen stiegen wir in den Zug und unternahmen einen Ausflug in die Städte Meknes und Fes. Beides sehr schöne und sehenswerte Städte und da gerade Nebensaison ist, gibt es auch kaum Touristen. Eine Kehrseite hat die Nebensaison allerdings: Die Temperaturen sind alles andere als berauschend. 5°C nachts und Unterkünfte ohne Heizung stellen selbst Outdoor-erprobte Menschen wie uns vor eine Herausforderung.
Unter diesen kühlen Umständen tut körperliche Nähe ganz gut – und davon gibt’s in marokkanischen Grand Taxis reichlich. Wobei sich das Wort Grand nicht auf die Grösse des Fahrzeuges, sondern eher auf die sich darin befindliche Menschenmasse bezieht. Im Gegensatz zu Petit Taxis, die man für kurze Strecken für sich alleine bucht, fahren Grand Taxis vorbestimmte Strecken und man zahlt nur seinen Platz. In Meknes quetschten auch wir uns in ein solches Grand Taxi. In einem etwa 30 Jahre alten, fünfplätzigen Mercedes mit über einer Million Kilometern wurden wir zusammen mit drei anderen Gästen und einem Fahrer nach Fes kutschiert. Nach einer guten Stunde in diesen beengten Verhältnissen aussteigen und sich entfalten zu dürfen war eine wahre Wohltat.
Nebst motorisiertem Verkehr sind insbesondere auf dem Land Esel-, Maultier- und seltener Pferdefuhrwerke ein alltägliches Bild. Welche Dienste die Tiere leisten wurde uns bei einem Ausflug zu den römischen Ruinen in Volubilis und der nahe gelegenen Ortschaft Mulay Idris bewusst. Mulay Idris liegt auf einem Hügel, die winzigen Strässchen in der Ortschaft viel zu steil und eng für Fahrzeuge. Das perfekte Einsatzgebiet für Esel. Die fleissigen Tiere schleppen hier Zementsäcke, Bauholz, Lebensmittel oder Colaflaschen durch die Gegend, und da gerade die Olivenernte begonnen hat, auch körbeweise Oliven. Während ihre Besitzer in den Suks Einkäufe tätigen, stehen sie in der Regel unangebunden, geduldig vor den Eingängen zu den Marktgassen und warten auf ihren Einsatz. Selbst in den Städten sind sie anzutreffen: Nähert sich in den engen Gassen ein schwer beladenes Eselgespann von hinten, heisst es rasch zur Seite ausweichen!
Nach diesem spannenden Ausflug in den fruchtbaren, nördlichen Teil Marokkos haben wir nun die Taschen für einen mehrtägigen Ausflug in den Atlas und die Sahara gepackt. Da sitze ich nun, unterwegs nach Marrakesch. Unterwegs zu neuen Begegnungen mit Einheimischen in einem grossartigen Land. Am Horizont tauchen die ersten schneebedeckten Gipfel des Hohen Atlas auf, im Dunst davor wird die Stadt immer grösser. „Prochain arrêt – Marrakech.“ Ich schultere meine Tasche und lächle meinen Mitreisenden zum Abschied zu: „Au revoir, bonne journée!“ Dann stürze ich mich ins Gedränge des Bahnhofs der uns noch unbekannten Stadt.