Ich fühle mich unglaublich erfrischt. Ich komme soeben aus einem mit Holz beheizten und nicht allzu sauberen Quartier-Hammam in Salé, wo ich endgültig den Wüsten-Staub der vergangenen beiden Wochen abgewaschen habe. Vom Meer in den Hohen Atlas und schliesslich in die Sahara – abwechslungsreicher hätte unsere Reise durch Marokko kaum sein können. Korrekt einen Turban binden, Brot im Sand backen, Dromedare satteln oder den Preis von Verkehrsbussen herunterhandeln – in den letzten zwei Wochen haben wir viel gelernt! Doch der Reihe nach.
Nach unserer Ankunft per Zug in Marrakesch vor zwei Wochen stürzen wir uns ins Getümmel der Metropole. Herzstück der Altstadt ist unangefochten der Djeema el-Fna. Von den Sultanen zur Zeit der Almohaden als Hinrichtungsstädte genutzt, ist der riesige Platz heute das pulsierende Zentrum der Stadt. Hier herrscht zu jeder Tages- und Nachtzeit Betrieb. Tagsüber lassen Schlangenbeschwörer zu seltsamen Flötentönen Kobras tanzen, Wasserverkäufer in traditionellen Trachten posieren gegen Entgelt für Fotos, mit Fussball-Fantrikots bekleidete Berber-Affen werden an Ketten herumgeführt, Henna-Malerinnen bieten ihre Künste an und an duzenden Ständen werden diverse Wundermittelchen feilgeboten. Bricht die Nacht herein weichen die Gaukler einer Unmenge an Fressbuden, Geschicklichkeitsständen und Geschichtenerzählern. Auch wenn heute die Mehrzahl der marokkanischen Kinder zumindest für einige Jahre die Schule besucht – insbesondere in den älteren Generationen ist Analphabetismus immer noch weit verbreitet. Die Märchenerzähler in Marrakesch jedenfalls können sich nicht über fehlende Zuhörer beklagen.
Wir jedoch kehren der quirligen Stadt am Folgetag den Rücken zu und fahren mit dem Mietauto in ruhigere Gebiete. Die Rollenverteilung ist klar: Mätthu und Reto wechseln sich am Steuer ab, der jeweils andere übernimmt die Navigation. Ich sitze mit dem fast tausend Seiten starken Reiseführer auf der Rückbank und kommentiere Sehenswürdigkeiten, schlage lohnenswerte Umwege vor, recherchiere Hintergrundinfos zu Marokko und übernehme die Verproviantierung der beiden Piloten.
Der erste Tag führt uns über den 2260 m ü. M. hohen Pass Tizi n’Tchka in den Hohen Atlas. Unterwegs sehen wir Atlas-Hörnchen, bestaunen tiefe Canyons und besichtigen zerfallende Kasbahs (Festungsanlagen). Alle paar Kilometer tauchen am Strassenrand winzige Souvenirstände auf, oder wir bekommen Steine mit Kristalleinschlüssen zum Kauf angeboten. Die Arbeitslosigkeit in Marokko ist hoch – sie liegt aktuell bei etwa 11%, bei den Jugendlichen bis 24 Jahre sogar bei schwindelerregenden 43%. Touristen sind daher eine willkommene Einnahmequelle.
Ebenfalls zu denken geben mir bettelnde Kinder: Immer wieder werden wir von teilweise noch extrem jungen Knirpsen um Geld oder Kugelschreiber gebeten. Offenbar haben einige Touristen vor uns eine gute Tat begehen wollen und die Kinder beschenkt. Anstatt mit ihren Gleichaltrigen zu spielen, rennen sie nun jedem Auto nach (und teilweise auch ungebremst davor), in der Hoffnung weitere Gaben zu erhalten. Dieses von den Touristen gut gemeinte Beschenken führt gemäss einem später auf unserer Reise getroffenen Lehrer auch immer wieder dazu, dass die Eltern ihre Kinder aus der Schule nehmen und stattdessen zum Betteln schicken.
Nach dem Überqueren des hohen Atlas setzen wir unsere Reise am zweiten Tag in Richtung Westen fort. Die Landschaft wird immer karger und trockener und schliesslich erreichen wir die Sahara. Unterbrochen wird die braune Landschaft durch saftig grüne Oasen. Rund um die wenigen Flussläufe wachsen Myriaden von Dattelpalmen und in den Oasengärten werden Kräuter angepflanzt. Spezielle, teilweise Jahrhunderte alte Bewässerungssysteme sorgen dafür, dass die Pflanzen ausreichend Wasser erhalten. Dieses Jahr ist die Situation allerdings nicht einfach: Die Niederschlagsmenge diesen Winter war viel zu tief, zahlreiche Brunnen sind ausgetrocknet und Flussläufe führen zu wenig oder gar kein Wasser. Keine einfache Situation für die lokale Bevölkerung, die auf den Ertrag aus den Oasengärten und das Tränken ihres Viehs angewiesen ist.
Abends erreichen wir die Kleinstadt Zagora und werden von Mohammed, einem bereits etwas älteren Marokkaner herzlich empfangen. Mohammed und seine Familie besitzen wie viele Familien in der Region Dromedare. Mohammed hat vor etwa dreissig Jahren begonnen, einen neuen Geschäftszweig zu entwickeln und mit seinen Tieren Trekkings durch die Wüste anzubieten. Mittlerweile sind sowohl er als auch seine Tiere etwas in die Jahre gekommen, so dass er Freunde aus der Gegend als Führer beschäftigt und die Dromedare von Nomaden-Familien ausleiht – aber noch immer ist er ein sicherer Wert, wenn es darum geht, für einige Tage die Zivilisation zu verlassen und die Sahara zu erforschen. Und dazu haben auch wir uns entschlossen. Eine Reise per Wüsten-Schiff passt doch hervorragend zu einer Segelreise, oder nicht?
Wir sitzen also in einem hohen, fensterlosen Raum auf dem teppichbelegten Boden in Mohammeds Haus und trinken marrokanischen Whiskey, so nennen die Einheimischen schalkhaft ihren Tee. Die Beschreibung des Ablaufs einer marokkanischen Teezeremonie würde einen ganzen Blogartikel füllen, deshalb hier nur so viel: Die Zutaten sind Grüntee, Minze, kiloweise Zucker und viel Zeit. Immer wieder wird der Tee aus grosser Höhe eingeschenkt, wieder in die Kanne zurückgegossen, wieder eingeschenkt, dann verkostet, wieder zurückgegossen – bis schliesslich der perfekte Schaum entstanden ist. Es gibt wohl keine Lebenslage und keine Uhrzeit, in welcher die Marokkaner nicht Tee trinken würden. Ist mal kein Café in der Nähe, sorgen mobile Tee-Anlagen dafür, dass der persönliche Pegel auf keinen Fall zu stark absinkt. Auch wir gewöhnen uns während unseres Monats in Marokko Teile der Teezeremonie an – und ernten immer wieder viel Anerkennung und Lob von den Einheimischen, wenn der Schaum perfekt sitzt.
Nach der Teezeremonie in Mohammeds Haus wird Couscous aufgetischt. Die über einen halben Meter durchmessende Schale wird in die Mitte des etwa 30 cm hohen Tisches gestellt, jeder bekommt einen Löffel zugeteilt. Traditionellerweise essen Marokkaner mit den Händen, in den letzten Jahren hat sich dies aber teilweise gewandelt. Etwas allerdings ist geblieben: Gegessen wird nur mit der rechten Hand, die linke gilt als unrein. Mich als eingefleischte Linkshänderin stellt dies immer mal wieder vor eine Herausforderung. Ich komme mir vor wie ein Kleinkind, während ich versuche mit dem Löffel in der rechten Hand den Couscous in den Mund zu schieben und insgeheim hoffe, dass Mohammed und sein erwachsener Sohn Ibrahim meine hilflos anmutenden Essversuche übersehen…
Nach einer kühlen Übernachtung auf ebendiesem Teppichboden beginnt am Folgetag das Abenteuer Dromedar-Trekking. Hierzu gleich eine Anmerkung: Dromedare sind einhöckrig und leben primär im Norden Afrikas und der Arabischen Halbinsel. Ihre zweihöckrigen Kollegen, die Kamele, sind etwas keiner und leben in Asien. Da in Marokko nur die einhöckrigen Tiere vorkommen werden die beiden Begriffe aber synonym gebraucht – es besteht ja keine Verwechslungsgefahr.
Unsere vier Dromedardamen (als Packtiere werden vorzugsweise weibliche Tiere verwendet, sie sind grösser und stärker) heissen Arab, Butletta, Charbusch und Hatosch. Jede hat einen Sattel umgeschnallt, auf welchem geflochtene Körbe befestigt sind. Darin befindet sich Essen, Zelt und persönliches Material von uns dreien sowie von unserem Führer Achmed und den beiden Kameltreibern Idir und Omar. Jedes Kamel kann etwa 150-200 kg Last tragen, so dass auch wir zwischenzeitlich für gewisse Strecken aufsitzen dürfen. Auf Idir und Omars Befehl entfalten sich die sitzenden Tiere wie ein Klappmesser und werden riesig! In zügigem Tempo marschiert die Karawane Kilometer für Kilometer gegen Süden. Durch Steinwüste, über einen Pass, vorbei an nomadisch lebenden Familien mit ihren Ziegen- und Kamelherden und schliesslich durch den heissen Wüstensand. Die grossen Kamelfüsse sorgen dafür, dass die Tiere regelrecht über den Sand gleiten, während wir eher angestrengt stapfen. Mittags wird jeweils unter einem Baum eine ausgiebige Rast eingelegt, abends das Beduinenzelt aufgestellt. Gekocht wird meistens auf dem Feuer. Achmed versorgt uns mit den leckersten Menüs die wir uns vorstellen können, während über uns vor lauter Sternen der Himmel kaum noch zu sehen ist. Wir lernen sogar, wie wir ohne Backofen, nur mit Hilfe der Natur, unser eigenes Brot backen können!
Unsere Packtiere dürfen während den Pausen jeweils ohne Gepäck umherwandern und sich das beste Grünzeug suchen, nachts sitzen sie mit zusammengebundenem Bein neben dem Zelt. Wer jedoch denkt, dass damit die Flausen eines Wüstenschiffes gezähmt sind hat weit gefehlt: Nach jeder Rast müssen Omar und Idir während fast einer halben Stunde auf Kamelfang gehen, bis die Tierchen wieder alle beisammen sind.
Es sind vier wunderbare Tage, die nur von einem Punkt getrübt werden: Selbst nach zwei Tagesmärschen ausserhalb der Zivilisation treffen wir in der Wüste immer noch Plastikmüll an. Leider ist die Problematik vielen Marokkanern noch nicht bewusst. Während in den eigenen vier Wänden alles piek ordentlich gehalten wird, beginnt die Müllhalde bereits im Hinterhof. Sandstürme blasen die leeren Plastiktüten, PET-Flaschen und anderen Unrat schliesslich durch die ganze Sahara. Auch wir können hier einen Beitrag leisten: Bei jedem Einkauf auf Plastiktüten verzichten, Strohhalme ablehnen und möglichst frisch und daher unverpackt in den Suks einkaufen. Und als Touristen als gutes Beispiel vorangehen, und den eigenen Müll nicht einfach aus dem Auto oder in den Sand werfen, sondern in Mülleimern entsorgen.
Vier Tage nach Verlassen Zagoras erreichen wir das knapp 100 km entfernte M’hammid, nahe der algerischen Grenze. Zurück in der Zivilisation mit lärmendem Verkehr, Sport-TVs in den Cafés und Strassenverkäufern fühle ich mich für einen Tag etwas reizüberflutet. Und ich vermisse unsere Kamele ein wenig. Sie nachts vor dem Zelt brummen zu hören oder ihren zufriedenen Gesichtsausdruck zu sehen, wenn sie gerade an einem Wasserloch getrunken hatten war ein schönes Gefühl!
Wir setzen unsere Reise durch die Sahara noch für einige Tage mit dem Auto fort. Sonnenaufgänge auf hohen Sanddünen geniessen, Fossilien in der Steinwüste suchen oder mitten in der Sahara in einem kleinen See Flamingos und Enten entdecken: Marokko ist immer für eine Überraschung gut!
Wir werden überall herzlich empfangen. Klar versuchen die Einheimischen immer mal wieder, uns mit einem Trick einen Teppich anzudrehen, oder uns für Phantompreise etwas zu verkaufen – meistens können diese Situationen mit einem freundlichen Nein und einem Lächeln aber schnell gelöst werden. Ohnehin geht ohne Feilschen in Marokko gar nichts. Selbst wenn die Preise fix angeschrieben sind, sollte verhandelt werden, ansonsten wird man belächelt. Reto hat damit sogar bei der Polizei Erfolg: An einer Strassenkontrolle übersehen wir ein nur auf Arabisch beschriftetes Stopp-Schild und halten erst 10 Meter später bei der Kontrollstelle an. Das ist eine klare Übertretung des Gesetzes und wird mit Busse geahndet. Da wir die geforderten 400 Dirham (40 Fr) nicht dabei haben wird die Busse nach einem Gespräch über Fussballer Shaqiri (übrigens der bekannteste Schweizer in Marokko) von den Beamten kurzerhand auf 200 Dirham halbiert…
Via den Hohen Atlas treten wir schliesslich den Rückweg nach Marrakesch an. Unterwegs warten wunderschöne Schluchten auf uns und tolle Kasbahs. Es ist weiterhin Nebensaison, uns so haben wir mehrmals eine dieser Lehmburgen für eine ganze Nacht allein. Von den aufgeschlossenen Besitzern erfahren wir viel über Land und Leute und werden fürstlich bewirtet.
Auf einer Wanderung durch die Dadés-Schlucht gegen Ende unserer Rundreise treffen wir zufälligerweise auf Höhlennomaden. Diese Familien wohnen in selbst gegrabenen Höhlen oben in den Bergen und leben primär von Ziegenhaltung. Das Wasser wird per Maultier und Esel von den oft über einer Stunde entfernten Quellen auf die Gipfel transportiert, gekocht wird in den Höhlen auf dem Feuer. Obwohl wir keine gemeinsame Sprache sprechen werden wir von Mutter Fatma zu Tee, frischem Brot und Datteln vor ihrer Höhle eingeladen. Ein unvergessliches Erlebnis. Als wir uns verabschieden wollen bittet sie uns um eine Gegenleistung: Schmerztabletten! Was für uns selbstverständlich ist, ist hier oben ein kostbares Gut.
Nicht nur hier, auch auf dem Kamel-Trekking wurde ich von Einheimischen um Rat gefragt – meist waren Zahnschmerzen die Ursache. Wenn man sich den katastrophalen Zahn-Zustand vieler Bewohner auf dem Land ansieht, auch nicht verwunderlich. Nur: Mit Schmerztabletten wird dieses Problem nicht gelöst, und einen Besuch beim Zahnarzt können sich die meisten nie leisten. Sofern es überhaupt einen gibt. In den grossen Städten ist die medizinische Versorgung mehrheitlich gut, doch auf dem Land sieht es anders aus. Wenige Ärzte, kaum Geld für den Arztbesuch – die Situation in abgelegenen Gegenden Marokkos ist nicht einfach. Einmal mehr empfinde ich tiefe Dankbarkeit für unsere zwar teure, aber hervorragende medizinische Versorgung in der Schweiz!
Nach zwei Wochen Ferien sind wir nun wieder bei Mauna Loa in der Marina von Rabat eingetroffen und bereiten uns für unsere Weiterreise auf die Kanaren vor. Reto erledigt die letzten Gemüse- und Früchte-Einkäufe in den Suks (Mandarinen kosten aktuell 20 Rappen pro Kilo), Mätthu überprüft einige Installationen im Motorenraum, ich hänge die Wäsche ab. Ausserdem besuchen meine Ali Babas (wegen ihren Bärten werden Reto und Mätthu immer wieder so genannt), einen Barbier und ich wie eingangs beschrieben ein lokales Hammam. Noch nie bin ich mir als Europäerin so fremd und verloren vorgekommen wie in diesem absolut untouristischen Hammam inmitten von nackten Marokkanerinnen. Ich werde aber auch hier wie überall in Marokko herzlich empfangen: Frau ist Frau, egal welcher Herkunft! Es ist der absolut unvergessliche Abschluss einer grandiosen Reise durch ein vielseitiges Land. Nicht alles ist perfekt in Marokko – aber die Offenheit und Herzlichkeit der Marokkaner werden uns noch lange ein Lächeln auf die Lippen zaubern.
Falls auch ihr euch verzaubern lassen möchtet: Hier findet ihr die Bilder unserer Reise durch Marokko